Es ist schon eine Weile her, dass sich der Bildhauer mit Meißel und Hammer bzw. Fäustel an Stein und Holz operierend seiner Primärmaterie widmete. Trotzdem kommt Peter Reill aus der Bildhauerei, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt. Dort ist auch seine künstlerische Haltung, seine Perspektive auf Zusammenhang und Detail, auf Ding und Bedeutung verwurzelt. Obgleich sich sein Anliegen wohl eher auf deren Beschleunigung richten mag, wenn wir vom Titel ausgehen.
Jahrhunderte lang definierte sich Skulptur über feste Regeln, die im Wesentlichen den Gestaltungsprozess des Wegnehmens und Hinzufügens betrafen. Spätestens seit Donald Judds Objekt-Raum-Auseinandersetzung, wenn nicht sogar noch früher, wenn wir an Duchamps Pissoir denken, haben sich versteifte akademische Prinzipien gelockert, oder haben sich vielmehr in optionale Handlungsvarianten der skulpturalen Überlegung verwandelt. Zwischen den Extremen entwickelten sich Bewegungen, die den gesellschaftlichen Themen Vorrang gaben (social sculpture bei Beuys), oder diese durch fundamentale Studien zur Bedeutung des Materials ersetzten. All diese Aspekte bleiben verschieden stark ausgeprägt in der bildhauerischen Recherche der Gegenwart virulent. Das läßt sich auch an Peter Reills Arbeiten nachvollziehen.
Er entspringt einer Generation in der Kunst, die bereits weiß, dass der Vergangenheit nichts mehr hinzuzufügen ist, nicht mehr jedenfalls in der bewährten Form. Der Künstler schwitzt sich die kulturelle Last in seiner eigens dafür geschaffenen Kunstsauna heraus. Das heißt, es handelt sich eigentlich um eine Art gefakten Durchlauferhitzer für den alltäglichen Konsumkunstaufguss vom gemeinen Kunstklischee zwischen Dürers Hasen, Leonardos Mona Lisa und Michelangelos Händen. Übrigens ist erwiesen, dass sich damit nicht, wie Walter Benjamin noch meinte, die Aura des illustren Werks abnutzt, sondern, dass genau die kontinuierliche Wiederholung eine neue Aura fabriziert - künstlich zwar, aber medial höchst wirkungsvoll. Weil dieser Vorgang seinen Rahmen braucht, erschafft sich der Autor mit bestechender Perfektion die passende Einrichtung und konstruiert eine Art Replik des Nutzgegenstandrepertoires.
Ähnlich funktioniert das Projekt „Im Wartezimmer“, inspiriert durch die bekannte Erfahrung des ungesuchten, aber wohlgemeinten, weil den Patienten beruhigenden Kunstgenusses. Der Künstler kolportiert und unterwandert die konventionelle Haltung und transformiert das Warten selbst in den künstlerischen Tatbestand. Eigens gefertigtes Kunststoffmobiliar simuliert eine neutrale und kühle Ästhetik. Und doch sitzt man nicht schlecht dabei. Für die kleinen Ferien zu Hause rüstet uns Reill mit Utensilien wie dem mikropool aus, um dem Urlaub in heimischen Gefilden die nötige Atmosphäre zu verleihen. Sodann beim Projekt „Indoor-Gardening“, auch dies eine Anspielung auf möglichst schmutzfreie und zweckmäßige Betriebsamkeit, die zur Kunstaktion mutiert, für welche Reill die entsprechende Ausstattung liefert. Reill trägt Kunst in die Umwelt hinaus und etikettiert diese entsprechend, oder holt Kunst in den persönlichen Innenraum. Der performative Zugriff paart sich mit klassischer Installation.
Reill untersucht gerne Zusammenhänge trivialer Natur. Er „doubelt“ die uns nahestehende Normalität in eine andere Sphäre der Realität. Gäbe es Cyberspace materiell, könnte man sagen, er betreibt plastischen Virtualismus und schafft Infrastrukturen für eine Topographie, die wie „geklonte“ Kulissen vereinzelter Filmszenen unseres Lebens in der Landschaft auftauchen. Der Künstler nähert sich überhaupt einer Form von Reproduktion, welche das Verhältnis zwischen Konsument alias Kunstbetrachter und Produkt alias Kunstwerk in ein neues Licht setzt. Was ehemals Skulptur war, outet sich nun als fast funktionstüchtiger Baukasten eines konzeptuellen Schauspiels.
Peter Reill ist nicht allein. Man spricht von einer allgemeinen Tendenz in der Gegenwartsskulptur, die auf Dialog zwischen kunstimmanenten Elementen und jenen, die ihr nicht zugerechnet werden abzielt, und dafür Material, Technik, Motiv, Motivanordnung, Gattung und Repräsentationsformen durchkonjugiert. Denken wir an Rosemarie Trockel, Katharina Fritsch, Erwin Wurm und etliche andere. Reill beteiligt sich allerdings weder an der Materialdiskussion noch am ikonographischen Diskurs, noch an der Gattungsdiskussion. Er interessiert sich vor allem für den Widerspruch.
Er fokussiert auf genau jenen schmerzhaften Punkt im Fadenkreuz des Systems, auf jene Schnittstelle, an der sich Alltag und Kunstwelt kreuzen und dabei oft in ihrer Bildhaftigkeit verschwimmen, sich verunklären und aneinander brechen. Gegenentwurf, Rekonstruktion, Fiktion, Slapstick, oder ernstzunehmende skulpturale Komposition?
Es geht bei ihm um Wahrnehmung und ihre Programmierung. Eine Taste daneben und alles sieht ganz anders aus. Es geht um das Verhältnis zum Ding, letztlich um die Objekt-Mensch-Beziehung. Im Gegensatz zu namhaften Kollegen wird bei Reill Realität nicht in eine andere Größendimension transportiert, sondern analysiert und anschließend in bestimmte zentrale, konnotative Komponenten gespalten und wieder zusammengefügt. Reill arbeitet mit Erinnerungswerten, mit Identifikationsfaktoren. Der Raum, die Verortung, die Versetzung und die haarscharf an der Realität vorbeidriftende, stilisierte Imitation der Dinge tragen zur skulpturalen Definition bei und ordnen das Oeuvre insgesamt unserer zeitgenössischen Problematik zu. Wir bewegen uns mit dieser Kunst in Zwischenräumen, an einer Grenze, die mal hier, mal da ausschlägt, aber unsere Orientierung erschwert. Ästhetische Erfahrung ereignet sich als Schwellenerfahrung(1).
Einerseits tilgt Reill die persönliche Handschrift in der Ausführung des Werks. Andererseits führt er eine erzählerische, spielerische Qualität ein, wenn er auf die vertrauten Assoziationen des Wartezimmers, der Ferien auf dem Balkon, auf Banalitäten, Biederkeiten der menschlichen Seele und des menschlichen Geschmacks verweist. Dann nähern sich die Installationen dem Wesen der Anekdote, statt in literarischer Gestalt in plastischer. Die Praxis des Alltags wird zum Thema der Skulptur, der Kunst. Ohne Pop, Fluxus, Land Art und ohne Duchamp hätte dies wohl niemals so stattgefunden.
Ein weiteres Experiment benennt Reill wie folgt: Das Digitale überlagert das Analoge. Was aber passiert, wenn man die digitalen Informationen ins Analoge zurücktransportiert? Durch den unterbrochenen Download begehrter und beliebiger Netzbilder friert er Momenteindrücke ein, partiell ungesteuert und dem Zufall überlassen. Der Zugang zum Internet wird getrennt und eine neue Verbindung zur Lebenswelt hergestellt. Hier illustriert er, wie sich die Objekt-Mensch-Beziehung vom religiös definierten Verhältnis zur fetischisierten Produkt-Konsum-Relation verlagert hat. Weniger das konkrete Ding an sich weckt ja unsere Begierden, sondern vielmehr seine Illusion, seine magisch-animistisch aufgeladenen Botschaften, die uns über den medialen Rausch erreichen. Die immer komplexer werdende Welt erfahren wir de facto vor allem aus zweiter Hand, durch Interpretation und Surrogate. Reill reagiert in seiner Arbeit auf diese Entwicklung und liefert seinen ironischen Kommentar. Eine Erlösung kann auch die Kunst nicht bieten. Immerhin können wir nach Jahrzehnten des biomorphen und instabilen Rohstoffes - als Metapher mangelnden Vertrauens in gesellschaftliche Konstellationen - eine Rückkehr zum Griffigen erahnen. Der Künstler drückt ein Auge zu und macht Schluss, wenn er es für sinnvoll hält. Peter Reill geht offline.
Die Werke des Autors spiegeln die Erfahrung seiner Epoche und Generation ohne ins Lamentieren zu geraten. Standort wie Bedeutung müssen stets überprüft und aufs Neue konstruiert werden. Der Ort ist der Diskurs selbst, der Inhalt stammt aus dem jeweiligen Lebensumfeld. Es entsteht eine Ikonologie der Gegenwart als solche. Stichprobenartig untersucht Reill isolierte, im Vorbeigehen aufgepickte und aufkommende Empfindungen und entwickelt für diese ein analoges Bühnenbild mit Requisiten. Es handelt sich um eine Art „Sampling“, genau wie in der Musik, um eine Komposition aus bereits bestehendem, konserviertem Erbe, das sich mit dem Augenblick verbündet. Fast immer bleibt der irgendwie geartete Bezug zur Idee der Kunst bestehen. Darin liegt womöglich der Kern seiner Bestrebungen. Als ob er hoffe, durch Unter- und Durchbrechung des alltäglichen Erfahrungshorizontes, durch Spiegelung seiner Absurditäten und Widersprüche, Sensibilität zu erzeugen.
Dr. Ellen Maurer Zilioli, 2015
(1) Erika Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In: Küpper / Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt / M. 2003, S. 139